Fantasy und Medizin – eine logische Kombination?

Fantasy und Medizin – wie passt denn das zusammen? Oft ernte ich erstaunte Blicke, wenn ich meine Spezialisierungen nenne.

In den Fantasy-Welten der von mir übersetzten Bücher gehören die Helden und deren Gegner den seltsamsten Völkern an (auf Englisch meist „Rassen“, aber das gilt im Deutschen aus historischen Gründen als Unwort). Da gibt es Zwerge und Riesen, Elfen, Halblinge und Kender, Orks und Goblins und viele, viele andere.

Für manche dieser Gesellschaften gibt es historische oder auch aktuelle Vorbilder. Dies gilt auch für die jeweiligen ungewöhnlichen körperlichen, geistigen und psychischen Merkmale. Aufgrund der Fortschritte in Medizin und Genforschung – und weil Ungewöhnliches gern in den Medien thematisiert wird – bin ich in letzter Zeit über verschiedene Berichte gestolpert.

Die Laron-Zwerge

Das Laron-Syndrom ist eine seltene Erbkrankheit, bei der das Wachstumshormon Somadotropin nicht den entsprechenden Rezeptor aktiviert. Die Produktion des insulinähnlichen Wachstumsfaktors 1 (IGF-I) kommt nicht in Gang, und das Wachstum der Betroffenen hört sehr früh auf. Interessanterweise scheinen Menschen mit dem Laron-Syndrom gegen Diabetes und Krebs weitgehend immun zu sein.

Eine Gruppe in Ecuador wird derzeit von Langlebigkeitsforschern unter die Lupe genommen, weil man sich Hinweise auf Medikamente gegen solche Erkrankungen erhofft. Diabetes ist in meinen Sachbüchern über gesunde Ernährung leider ein Dauerthema – umso wichtiger ist es, hier weitere Erkenntnisse zu gewinnen.

Im einem abgelegenen Schweizer Alpental in Samnaun wurden Ende des 19. Jahrhunderts acht kleinwüchsige Kinder geboren, bei denen jedoch eine andere erbliche Ursache ermittelt wurde. Hier fielen mir die Parallelen zu den Vorstellungen von Zwergen in abgelegenen Bergfestungen oder Wäldern ins Auge.

Kleinwüchsigkeit kann zahlreiche Ursachen haben. Das Besondere an den ecuadorianischen Laron-Zwergen ist, dass sie weitgehend normale Proportionen aufweisen, wie man in dem englischsprachigen Video auf dieser Seite sehen kann.

Damit kommen sie der Vorstellung eines Halblings oder Hobbits schon sehr nahe. Umgekehrt wurde der kleine Urmensch, dessen Skelett 2003 auf der indonesischen Insel Flores entdeckt wurde, spontan als „Hobbit“ tituliert.

Der Riese Goliath – wirklich nur ein Gleichnis?

Im November 2013 sind laut Wikipedia 14 Personen mit über 240 cm Größe zuverlässig dokumentiert und medizinisch vermessen; aufgeführt werden in der „Liste der größten Personen“ jedoch weit mehr Personen.

Rekordhalter ist Robert Wadlow, der als der „Alton Giant“ mit zehn Jahren bereits zwei Meter maß. Er wurde nur 22 Jahre alt. Die Ursache für sein Wachstum war ein Hypophysenadenom, ein Tumor der Hirnanhangsdrüse, der zu einer übermäßigen Produktion von Wachstumshormonen führt.

Als der größte lebende Mann der Welt gilt derzeit der Türke Sultan Kösen (*1982) mit 251 cm. Die Chinesin Zeng Jinlian (1962-1982) galt zu ihren Lebzeiten als größte Frau der Welt. Zu den größten Deutschen zählen Julius Koch (1872-1902) und Anton Franckenpoint (ca. 1618-1648), im 30-jährigen Krieg Soldat für den Feldherrn Christian von Braunschweig-Wolfenbüttel.

Die Elfen-Kinder

Im deutschen Sprachgebrauch spricht man von „Elfen-Kindern“, wenn es um das Williams-Beuren-Syndrom (WBS) geht. Ich persönlich dachte bei der Beschreibung der typischen Wesenszüge – Furchtlosigkeit und volles Vertrauen – spontan an meine geliebten Kender, denen Margaret Weis und Tracy Hickman in ihren Drachenlanze-Geschichten ein Denkmal gesetzt haben.

Eltern und Betroffene finden Hilfe bei Stiftungen und Selbsthilfeverbänden.

Das kollektive Unbewusste

In der Psychologie hat C. G. Jung die Vorstellung vom kollektiven Unbewussen entwickelt, derzufolge tiefe Schichten unseres Unterbewusstsein auf das gespeicherte Wissen der gesamten Menschheit zugreifen. Das ist ein Denkmodell, dem ich viel abgewinnen kann (besonders seit ich mich durch das Werk von Doris Lessing gelesen habe).

Vieles wurde Jahrtausende hindurch in Form von Märchen, Sagen und Liedern mündlich weitergegeben. Schriftsteller und Filmemacher ahnen vielleicht gar nicht, wie sehr ihre Geschichten mit dem Erleben realer Menschen verknüpft sind, die tatsächlich existierten und auch heute existieren.

Angesichts von sieben Milliarden Menschen auf der Welt verliert der Einzelne heute seinen Exotenstatus, erhält hoffentlich medizinische Hilfe und hat Chancen, zu Lebzeiten Schicksalsgenossen zu treffen, sich über das Internet und real mit ihnen zu verbinden.

In Fantasy-Welten hingegen entstehen Bündnisse wie bei den Gefährten der Halle in der Saga vom Dunkelelf, wo der einsame Dunkelelf Drizzt Do’Urden mit einem Zwergenkönig, dessen Adoptivkindern (zwei Menschen, darunter ein wahrer Hüne) und einem Halbling unzählige Abenteuer besteht, werfen ein neues Licht auf unseren Umgang mit ungewöhnlichen Menschen und Fragen der Diskriminierung.

Ich habe gute Gründe, Fantasy-Serien zu übersetzen. Ihre Helden schleichen sich in mein Herz und begleiten mich. Und häufig haben sie weit mehr mit der Realität zu tun, als wir glauben.

Imke Brodersen

Ein Blog von Imke Brodersen über Bücher, Autoren und den Alltag einer Literaturübersetzerin. A German literary translator's blog on books, authors, and translating in general. By Imke Brodersen.

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