Lesenswert: Leopold von Sacher-Masoch

Wie stößt man auf einen fast vergessenen Schriftsteller aus dem 19. Jahrhundert? Eine Verkettung glücklicher Zufälle ließ mich auf einer Lesung in den unerwarteten Genuss kommen, Texten von Leopold von Sacher-Masoch (1836-1895) lauschen zu dürfen.

Tot geschwiegen, aber immer noch lesenswert

Von Sacher-Masoch war der Sohn des Polizeidirektors von Lemberg, der einstigen Hauptstadt von Galizien. Nach dem Abitur in Prag studierte er in Graz, lehrte dort zunächst Geschichte an der Universität und widmete sich ab 1870 nur noch dem Schreiben. Zur damaligen Zeit war er ein beliebter und geachteter österreichischer Schriftsteller, der mit vielen Größen seiner Zeit in Kontakt stand. Dass er im deutschsprachigen Raum lange in Vergessenheit geriet, hat zwei Hauptgründe: Zum einen provozierte Sacher-Masoch als glühender Gegner des Antisemitismus, so dass viele seiner Bücher in der Zeit des Nationalsozialismus Bücherverbrennungen zum Opfer fielen – allein schon für Kommentare wie diesen:

Nie hat ein wahrhaft gebildeter Geist, ein wahrhaft edles Herz, ein wahrhaft reiner Charakter die Juden gehaßt oder verfolgt, im Gegentheil, die erleuchteten Männer aller Zeiten, aller Nationen haben sie vertheidigt und beschützt.

 

(aus: Leopold Sacher Masoch, Neue Erzählungen – Kapitel 1)

Zum anderen schuf er mit seinem erotischen Werk Venus im Pelz den Prototyp des Liebhabers, der in seiner Erniedrigung schwelgt – Verhaltensweisen, die noch zu seinen Lebzeiten als „Masochismus“ in die psychologische Literatur eingingen.

Stimme einer vergangenen Epoche

Auf der Lesung, an der ich teilnehmen durfte, hörten wir verschiedene Episoden aus dem „Judenraphael“, der heute praktisch nur noch antiquarisch erhältlich ist. Sehr anschaulich, voller Wärme, mit viel Sprachwitz und anhand von lebhaft skizzierten Charakteren schildert Sacher-Masoch darin die Lebenswelt der einfachen Juden Galiziens, ihre Bräuche und immer wieder auch ihre Sprache, das Jiddisch. Man fühlt sich entführt in eine verlorene Welt, die wir heute allenfalls noch über das Musical ANATEVKA (ich kenne noch das Original mit Shmuel Rhodensky), Klezmer-Musik und Filme wie „Der Zug des Lebens“ (eine warmherzige Tragikomödie) kennen. Sacher-Masochs Beobachtungen dieser verlorenen Kultur ist keineswegs folkloristisch, sondern authentisch und in der damaligen Zeit verwurzelt.

Nach 100 Jahren aus der Versenkung geholt

In Lemberg hat man Sacher-Masoch ein lebensgroßes Denkmal gesetzt. In Reiseführern über die Gegend sind Auszüge seiner Texte zu finden, und 2003 würdigte die Stadt Graz ihren einstigen Bürger anlässlich ihres Engagements als Kulturhauptstadt Europas. Einige seiner Texte sind in gut sortierten Bibliotheken zu finden, aber auch im Projekt Gutenberg sowie (für Hörbuchfans) auf Vorleser.net. Sacher-Masoch beobachtete mit Grausen das Erstarken des Antisemitismus, prangerte es an und machte sich damit viele Feinde. Seine Erzählungen dürften eine wahre Fundgrube für Historiker und Literaturwissenschaftler sein.

Imke Brodersen

Ein Blog von Imke Brodersen über Bücher, Autoren und den Alltag einer Literaturübersetzerin. A German literary translator's blog on books, authors, and translating in general. By Imke Brodersen.

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